Club der toten Dichter


aus der wiener Boulevardzeitung Augustin ...


CLUB DER TOTEN DICHTER

Gedichte schreiben muss man so, dass, wenn man das Gedicht gegen das Fenster wirft, das Glas zu Bruch geht. (Daniil Charms) 

Am 17. 12. 2001 wartete ich vergeblich auf Christian Loidl, der mich besuchen wollte. Stattdessen bekam ich einen Anruf von einer Bekannten, die, nebenbei bemerkt, Toth heißt und sagte, Christian sei in der gestrigen Nacht aus dem Fenster gefallen und gestorben. 
Klaus Gölz 14.09.2009
Christian war ein Vollzeit-Dichter, der unentwegt seiner überschäumenden Begabung hinterher schreiben musste. Selbst im Schlaf arbeitete er mittels Rekorder und einem automatischen Mikrofon. Ständig suchte er nach neuen Methoden, den subjektiven Blick auf die Welt und auf die eigenen Werke zu verändern, um beides zu revidieren, zu brechen und zu wandeln. Seine ungebremste Neugierde auf die Facetten von Wirklichkeiten war von seiner buddhistischen Furchtlosigkeit beflügelt, so dass er es in Kauf genommen hätte, sich vom Krokodil fressen zu lassen, nur um zu sehen, was dabei herauskommt und wie die Welt ausschaut, wenn man sie mit den Augen eines Reptils betrachtet. 

Seine Umgebung war ständig eingeladen, diese Abenteuer auf dem fließenden, lebendigen Spielplatz aus Sprache und Gegenwart mit ihm gemeinsam zu bestehen. Nie haben wir über Poesie gesprochen, immer waren wir mitten drin. Christian zu Hause auf allen Planeten jagte mich atemlos Staunenden durch diese Normalitätsverrückungen. Verändere den Blick, die Sprache, die Bedeutung, die Wirklichkeit. Um die Worte wirkkräftig werden zu lassen, war es unbedingt notwendig, sie aus den Büchern und Heften durch die Performance in den Augenblick zu schleudern und als Zaubersprüche zu vergegenwärtigen. 
Einmal hat er sich zu weit aus dem Fenster gelehnt. Ein Arbeitsunfall während eines Experimentes kostete ihm das Leben. Er war 44 und bei weitem noch nicht dort angekommen, wo er hin wollte oder hätte gelangen können. 

Am 25. 5. 2009 las ich zufällig, dass der ehemalige Grazer Stadtschreiber Nazar Hontschar vier Tage zuvor in den Karpaten unter ungeklärten Umständen ertrunken sei. Den Lemberger Performance-Dichter kannte ich über Christian Loidl. Wenn man sich mit seiner Arbeit, seinem Verhältnis zum Wort und den Sprachen beschäftigen wollte, brauchte man viel Geduld. Nazar Hontschar kam daher wie jemand aus einer anderen Zeit, in der dem Spiel mit den Silben vorwärts wie rück- und seitwärts etwas Vormenschliches, ja Göttliches anhaftet und den einfachsten, banalsten Dingen Wahrheiten auskommen, wenn man sie nur lange genug dreht und wendet. Er schien die babylonische Sprachverwirrung in seinem galizischen Nest verschlafen zu haben, und so war er, der Letzte seiner Art, uns Verwirrten ein einzig poetisches Rätsel. Kern seiner Arbeiten sind Sprachspiele wie Anagramme, Palindrome, Ambigramme und Bildgedichte. In diesen verstricken sich Sprachen übergreifende Homophone und Lettern aus allen Alphabeten mit Bildern aus Hontschars eigener autistischer Schlaf-Welt. Dabei ging es ihm, denke ich, weniger um eine Vermittlung. Meine Bemerkung, in seiner Kunst genüge das Spiel dem Spiel(enden) völlig, kommentierte er jedoch mit einem großen Fragezeichen. 

Er war ein sehr ruhiger Mensch, mit dem man ausgezeichnet schweigen konnte. Bei der Langsamkeit, mit der er der Außenwelt begegnete, übersah man oft, wie rührig er war und wie viele künstlerische Projekte seien es musikalische, bildnerische oder literarische er neben seinen eigenen auf internationaler Ebene initiierte und organisierte. Er brachte eine Menge Leute zusammen. Nazars Herz, von dem ich glaubte, dass es selbst eine Schildkröte überleben könne, versagte 45-jährig, als er zum Baden in das kalte Wasser eines Gebirgssees bei Uschhorod sprang. 
Nazar und Christian waren für mich in gewisser Weise zwei Pole des einem poetischen Magneten, in dessen summenden, flimmernden Feld meine Sicht auf die Dinge neu ausgerichtet wurde. Zu der Unerschütterlichkeit, die sie zu Lebzeiten ausstrahlten, steigt in meiner Erinnerung eine feine Ahnung der Gefahr und der Zerbrechlichkeit, welcher sich ein Mensch aussetzt, der derart beherzt an den tiefen Grundfesten unserer Scheinbarkeit, der Sprache, zu rütteln wagt. 
In der Strahlkraft ihrer Personen und Werke, so verschieden sie sind, treffen sich seit Christians Tod zahlreiche Bewunderer und Freunde der Dichtung und Performance regelmäßig zu Gedenklesungen. Jeder hat seine eigenen Toten und verfährt mit ihnen nach Bedarf, und vielleicht ist das ja auch gut so. 

Der Verein Farnblüte veranstaltet am 18. September eine Lesung mit Gedichten von Christian Loidl, Nazar Hontschar und Doris Mühringer. Die österreichische Dichterin ist am 25. 5. 2009 88-jährig gestorben. Sie hatte Christian Loidl, der 1983 seine Dissertation über ihre Lyrik schrieb, gebeten, einmal nach ihrem Tod ihr Nachlassverwalter zu werden. Er würde sie sicherlich überleben, schien ihr. 

  

NAVIGARNICHT 
schreiben 
ist wahnsinn 
lesen ist sinnlos 
leben ist arschlunge 
arschlunge ist verschlungen 
arschschlund ist verschlagen 
vers-ofen ist ver-soffen 
vers-essen ist ver-sessen 
ver-stand isst vers-tand 
es lebe die 
un-sinnige 
uns-innige 
poesie! 

Nazar Hontschar 


Info: 
NACHKLANG 
Freitag, 18. September, 17 Uhr 
Bei Schönwetter im Augarten (Wiese vor Bunkerei) 
Bei Schlechtwetter in der Loidl-Wohnung, 1020, Vereinsgasse 3/12 
Klaus Gölz 09/2009

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