Sibirien-Texte (Auszüge)




Und so schreib ich das alles doch deshalb nur auf, 

weil’s für wen andern ist, denke Sonntagsgedanken, weil für mich allein ja auch nur die Hauptsätze, oder sogar nur Bildfetzen und Gefühlsskizzen reichten.
Und wieder und wieder blicke ich aus dem Fenster der Transsibirischen Eisenbahn, blicke durch welliges Glas, durch meine trübe Selbstspiegelung raus in die weite graugrüne Landschaft, die mir nichts entgegnet. Auch trübe. Der Landschaft ist mein Blick egal. Das beruhigt mich. Vielleicht bin ich die ganze Aufregung gar nicht wert. Nichts wäre mir jetzt lieber als das.
Den Goldgräbern aber sind wir nicht gleichgültig. Nein, sie eignen sich uns zu Spielgefährten an, zum Speckessen und Wodkatrinken.  In der Oper ihrer Spendabilität,  müssen wir unsere übermüdeten Nerven mit Sprit übergießen. Ein hässliches Körpergefühl. Ständige Aufmerksamkeit ist gefordert. Ein enger, beunruhigender Gestank. Unsere Körper gegen uns, ihre Körper gegen uns. Unsere Sprachprobleme sind ihnen wurst.




Boris

Er habe schon des öfteren Angebote von europäischen Theatern in Italien und Frankreich erhalten. Ein paar Freunde sind da auch schon hin gezogen. Er könnte da sogar eine Wohnung benutzen, in Italien. Aber er kann hier einfach nicht weg. Das Leben ist scheiße hier, aber er liebt dieses Land. Er liebt diese Scheiße. „Es ist, wie wenn man auf einem wilden Pferd galoppiert. Man hat die Kontrolle verloren, es rast über die Steppe. Die Zigarette fliegt dir aus dem Mund.“ Er reißt sich die Kippe aus dem Mund und wirft sie hinter sich, reißt die Augen auf: „Du suchst eine neue, du willst dir eine aus der Tasche ziehen. Da verlierst du die ganze Packung. Scheiß drauf, dann gibt’s halt keine Zigaretten.“ Boris fuchtelt. „Dir fliegt der Hut weg: egal. Der Wind bläst dir einfach alles weg: du reitest wie ein Verrückter, das Pferd ist verrückt geworden und du verlierst deine Kleider, einfach alles! Doch du fliegst über die Steppe.“ Boris ist ganz außer Atem, er strahlt uns mit feuchten Augen an, hält seinen Stroh Cowboyhut mit dem aufgenähten Union Jack in den zitternden Händen. Seine langen Haare sind zerzaust. Drei Sekunden lang steht er da, wie ein Turner, der nach seiner Reckübung, nach dem Salto kerzengerade auf der Matte landet und noch in seiner vollkommenen Spannung verharrt. Die Haltung, der Blick, unser Anschauen auf dem Platz der Revolution sind eine Einheit, eine Dose voll mit Sibirien Eintopf. Scharfes Bremsenquietschen mit einem dumpfen Aufprallgeräusch beendet die Situation. Direkt vor uns auf der Lenina hat ein Polizeiauto einen Fußgänger angefahren. Der rappelt sich stöhnend auf und bleibt wankend und wie betäubt vor dem Wagen stehen. Der Fahrer kurbelt die Scheibe hinunter und schreit ihn an, er solle gefälligst den Weg freimachen. Zur Bekräftigung seiner Worte gibt er ordentlich Gas und lässt den Wagen ein wenig nach vorn springen. Der Verletzte hüpft zur Seite und entgeht nur knapp einem Schlag des Fahrers, der beim weiterrasen mit der Faust ausgeholt hatte.
„Das ist die Polizei, so ist das hier… “ sagt Boris leise, eher zu sich.





IMPERIA SNEGOFF - Reich des Schnees (2003)


„Singing is dangerous.“ VLADIMIR BATURIN muss es wissen. Seit seiner Jugend ist der heute 44- Jährige ein leidenschaftlicher Rockmusiker, und in der UDSSR war das nicht gerade einfach. In Burjatien, einem einsamen Land, tief in Sibirien zwischen Baikal und der Mongolei gelegen, gründete er 1997 mit öfter wechselnder Besetzung die Band IMPERIA SNEGOFF (Reich des Schnees) und war anfänglich Sänger dieser Gruppe.
Er beherrschte auch die in der burjatischen Volksmusik verwurzelte Technik des Kehlkopfgesanges. Im Jahr 2000, bei einem größeren Festival in Tschitah, berührte er mit seinem Mund ein unter Strom stehendes Mikrophon und verlor in Folge dieses Unfalls fast alle seine Zähne, die Fähigkeit, artikuliert zu singen und sukzessive die Band. Vladimir begann, Bass zu spielen.
Glücklicherweise traf er im Frühjahr 2001 auf den Sänger und Flötenspieler KLIMENT FEDOROV, der mit seinen zwei Freunden, ANDREY BAGLAEV (Gitarre) und ALEXANDER VARFOLOMEEV (Schlagzeug) die Lücken in der Gruppe wieder zu schließen vermochte. Die drei sehr jungen Musiker verliehen der Band ganz neue Impulse. Die Elemente aus der burjatischen Folklore wurden verstärkt und mit westlichen Hiphop und Hardcore Adaptionen kombiniert. Die Texte sind ausschließlich in Burjatisch, einem mongolischen Dialekt, verfasst. Sie handeln vom freien Fall des Landes, der Umweltverschmutzung und vom herrschenden Chauvinismus, von Neonazis und Schamanen und damit von Dingen, über die man selbst heute in Burjatien kaum ein Gespräch führt.
2001 wurde das Album ETNODRIVE (kein Tippfehler) veröffentlicht, das erste in der neuen Besetzung und das sechste insgesamt. 2002 erschien DANCE ON SUNRISE IN GOBY. Auf der 23 Lieder langen Platte sind auch zwei Koproduktionen mit dem deutschen Musiker NICKY SWING (alias Klaus Gölz) zu hören. Standardformat der in Ulan- Ude und Irkutsk aufgenommenen Werke ist die erschwingliche und wohl unsterbliche Musikkassette. Anfang 2003 zog Alexander Varfolomeev aus Studiengründen nach Tschitah und zuletzt wurden der Schlagzeuger NIKOLAI KOCHETOV und der Keyboarder ALEXEY VARFOLOMEEF in die Gruppe aufgenommen.
IMPERIA SNEGOFF ist in Sibirien und der Russischen Föderation sehr populär und wird regelmäßig zu den großen Festivals eingeladen. Die letzten zwei größeren Auftritte waren im Oktober 2002 in Jekatarinenburg und im April 2003 in Petersburg (SKIF- Festival). 
Ihr besonderer Reiz liegen in dem genuin asiatischen Gesangsstil in einer selbst den Russen fremden Sprache, und den unkonventionellen Kompositionen, in denen mit viel Schabernack und Mimikry gewohntes „Musikanhören“ sabotiert wird. Stilklischees werden wie Masken fortwährend auf- und abgesetzt. Das ganze entbehrt auch weder der nötigen großen Portion Humor und Selbstironie, noch einer engagierten, kritischen Haltung den herrschenden politischen und gesellschaftlichen Zuständen gegenüber. Die eigene Kurzdefinition der Band: “ We are Anarcho Buddhists.“








Даши-Доржо Итигэлов (Daschi-Dorscho Itigelow )

Eine Geschichte, die sich offenbar in Ulan Ude ereignet hat, wurde mir vor Ort recht oft erzählt. Vom Eisenbahnwagon voller junger Soldaten- Burjaten wie Russen- die, vom Lama Daschi-Dorscho Itigelow am Bahnhof  gesegnet, allesamt unversehrt von der Front zurückkamen; 200 an der Zahl.






Um Missverständnisse zu umgehen möchte ich gleich dazusagen, dass ich ein großer Freund der Aufklärung bin, und hier einfach nur ein Zusammenspiel meiner Geschichten vor Ort und späterer Zeitungsberichte dokumentiere. 
Andererseits lebt man als Mensch manchmal in sehr bewegenden Spannungsbereichen zwischen Abgeklärtheiten und überwältigender Mystik. 


Hier ein kleiner Auszug aus meinem "Sibirischen Tagebuch": 

17.05.2002
...

Leider fängt es wieder an zu regnen, und als wir uns beim Zentralmarkt absetzen lassen, gehen wir vor dem Einkauf noch mal ins Datsan um ein bisschen zu meditieren und aufs Klo zu gehen. Ich rede mit einem Mönch, der uns für Montag um 14 Uhr zu einer Zeremonie einlädt. Ich kaufe ein Vadschra-Amulett. Etwas inspiriert setzen wir uns am Abend noch mal 20 Minuten lang an unseren Haus-Stupa. Dann gehe ich zu Simon in die Stadt. Er ist eher der Typ für derbere Späße, und so bestelle ich, nach seiner „Korrektur“ meiner Aussprache, bei der hübschen Verkäuferin eine Flasche dunkle Arschlöcher anstatt dunkles „Otschakovo“ Bier.
Simon will hier unbedingt raus. Er möchte die weite Welt sehen. Gerade hat er die Prüfung für Wagonbedienstete in der Transsib gemacht, das ist zusammen mit dem Englischstudium schon einmal ein Anfang. Ich bin mir sicher, dass er gar nicht „Simon“ heißt. Warum ärgert mich sein amerikanischer Akzent? Warum soll ein Russe nur gebrochenes Englisch sprechen, damit es mir passt?
Bevor die Marschrutka kommt, stehe ich 40 Minuten im Regen. Dann steigt ein betrunkenes Mädchen mit mir ein und will, dass ich mit zu ihr auf die hinterste Bank komme. Na, danke. An einer Haltestelle schon außerhalb steigt ein älterer Burjate ein. Er hat eine weiße Hose an, ein weißes Tennishemd, eine Baseballmütze, auch weiß und eine Sonnenbrille. Im Nu hat der den ganzen Kleinbus irritiert, da er jeden anquatscht, nach Namen und sonst was fragt, den Leuten auf die Schultern oder die Knie fasst und in die Augen schaut, die Sonnenbrille hat er natürlich vorher abgenommen. Zuerst denke ich, dass er besoffen ist und vermeide ihn anzuschauen. Aber es ist unmöglich, diesem penetranten Kerl zu entkommen. Ich komme an die Reihe, und schon weiß er meinen Namen und dass ich in Österreich wohne. Er sagt er sei Lama, will mir ein winziges Ding in die Brusttasche der Jeansjacke stecken; ich will es vorher sehen, und was erst wie Mäusekacke aussieht, entpuppt sich als ein Stückchen Räucherstäbchen. Er sagt, das sei gut für mich, er kenne sich aus, er sei Lama. Und im gleichen Augenblick wandert das Teilchen in die Tasche, in der mein Vadschra-Amulett steckt. Er hält es schon in Händen, lässt es hochbaumeln und freut sich so, dass er mit mir ein Bier trinken gehen möchte. Es wäre wohl auch für ihn nicht das erste für heute gewesen. In Sokol an der Endhaltestelle angekommen, gehen wir in ein Kiosk. Ein Haufen junger Männer kommt an, um mit dem seltsamen Lama zu reden. Sie begrüßen ihn mit Verneigungen. Er stellt mich ihnen vor und wir tauschen Namen. Dann renne ich schnell zu Alex, um ihr alles zu erklären und sie zu fragen, ob sie noch mal mit mir raus will. Sie ist aber schon zu müde. Ich nehme das Prospekt aus dem wiener Shambhala-Zenzrum mit, damit ich ihm irgendetwas zeigen kann, worüber man reden kann. Die jungen Kerle sind weg, und der Lama zunächst auch. Dann kommt er aus einer dunklen Ecke hervor und winkt mich zu sich. Wir treffen zwei Männer und alle versuchen sehr erfolglos, mir etwas mitzuteilen. Es funktioniert einfach nicht, ich check einfach nicht, was sie von mir wollen. Sie geben auf. Nun wollen die drei zu mir nach Hause. Ich sage ihnen, dass es nicht ginge, da Alex bereits schliefe. Der Lama nimmt mich bei der Hand und wir gehen zum anliegenden Häuserblock. Da stößt eine Frau zu uns, sie wird aber von dem Lama weggeschickt, keine Frauen, sagt er, ich verstehe immer weniger. Einer unserer Begleiter hat sich schon verabschiedet. Zu dritt gehen wir nun in eine Wohnung im obersten Stock des Nachbarhauses. Unser unbekannter Begleiter ist hier zu Haus. Wir wurden nicht erwartet. Eine verschlafene Frau im Nachthemd öffnet uns, die Kinder, ein etwa Neunzehnjähriger und eine etwa dreizehnjährige Teenagerin, werden aufgeweckt und dem Lama vorgestellt. Die Tochter ist genervt und sauer, dass sie nicht schlafen kann. Der Sohn steht nur mit Unterhosen bekleidet vor mir und löchert mich mit Fragen. Die Frau fängt an, in der Küche zu kochen und alle anderen außer der Tochter reden auf mich ein. Die Situation überfordert mich. Es ist mir voll peinlich, nachts um halb eins mit zwei angesoffenen Typen, von denen einer ein Lama ist, in die Nachtruhe einer mir fremden Familie hineinzuplatzen, sich auf eine Wohnzimmercouch, welche gerade noch das Bett der zwei Kinder war, zu setzen und sich einen Wodka auf Rechnung des Hauses reinzukippen. Der Nüchternste bin ich inzwischen auch nicht mehr, ehrlich gesagt. Schon bald ruft die Frau, das Essen sei fertig. Verhalten gehe ich in die Küche. Ein Babyhund und eine Babykatze trotteln gemeinsam hinaus in den Flur. Der Lama stürzt sich überschwänglich auf das Hündchen und nimmt es in den Arm. Er ist begeistert. Ich warte mit den Eltern am Küchentisch, wo das Sauerkraut kalt wird, während der Lama noch schnell dem Jungen die Zukunft voraussagt. Mein Shambhala-Prospekt ist verschwunden. Na ja, taucht sicher wieder auf. Die Frau sieht müde aus. Der dünne kleine Mann mit Schnurrbart und runzeliger Haut. Goldzähne. Ich bin froh, das es kein Fleisch gibt und werde sowieso versuchen, mich vor dem Essen zu drücken, da ich keinen Hunger habe. Der Lama kommt, er schaut besorgt auf seine weiße Hose, untersucht sie sorgsam auf Flecken: alles in Ordnung. Er stellt die Pflanzen auf der Fensterbank um, rückt sie dann noch mal alle etwas zurecht, begrüßt sie und streichelt manche. Eine schöne Geranie kommt direkt auf den Esstisch. Nach einem Moment schiebt er sie noch mal fünf Zentimeter nach links, dreht sie etwas, bis er zufrieden ist. Jetzt muss Wodka getrunken werden. Als ich auf die Aufforderung zum Essen dankend ablehnen will, hat mir der Lama unglaublich schnell einen ganzen Teelöffel Butter in den Mund gesteckt. Jetzt muss ich essen. Immer wieder untersucht dieser Kerl seine weißen Hosen, er lässt sich ein Handtuch bringen, mit dem er sich regelmäßig Hände, Mund und Stirn abwischt. Nun muss die Frau wieder aufstehn, um mir auch so ein Handtuch zu bringen. Ich soll’s ihm nachmachen, ich tu’s. Dann nimmt er zwei Streichhölzer und nimmt damit das Kraut wie mit Essstäbchen. Ich tu’s auch, nachdem er mir zwei Hölzchen gegeben hat. Es ist eine Art Ritual oder einfach nur ein blödsinniges Spiel, und ich mache mit. Plötzlich ist doch noch etwas auf die Hose gefallen. Der Lama ist entsetzt und ärgert sich lauthals. Jetzt tauscht er die schöne, aber besudelte Hose gegen eine löchrige, alte Jogginghose des kleinen Mannes aus, denn er braucht für das, was er vorhat, eine saubere Hose.
Mit Weihrauch werden wir nun gesegnet. ich habe mir das Handtuch wie er um den Nacken gehängt, da ich vorher immer alles nachmachen sollte. Das ist aber scheinbar nicht ganz richtig gewesen, deshalb lacht er, aber ich soll’s nun auch umhängen lassen. Beim Segnen müssen alle Gabelspitzen nach unten zeigen. Nun wird noch Wodka durchs Fenster geschüttet, mein Amulett gesegnet, und die Blumen bekommen auch etwas Rauch. Die Eheleute sagen mir, dass ich jetzt gesund bliebe und viele Kinder zeugen könne. Oh schreck. 
Ich frage den Lama, ob er eine gewisse zornige Gottheit kenne. Darauf hin schaut mich ganz ernst an und drückt und quetscht mich an Armen, Brust und Bauch, tastet den Kopf ab und das war die ganze Antwort auf meine Frage. Manchmal ist der Lama ziemlich laut, und die Tochter kommt einmal aus dem Bett und beschwert sich über die permanente Störung. Ich erzähle von Christian Loidl, der ein Buddhist war, und seinem Tod und frage den Lama, ob er etwas für ihn tun könne. Ich soll 21 Rubel auf den Tisch legen und zwei von seinen Räucherkrümeln anzünden. Während die abbrennen sagt er einen Text auf. Öfter muss ich nun Christi Namen aussprechen, und nach dieser Zeremonie verlangt er noch mal 21 Rubel für den Wodka, den wir hier getrunken haben. Es ist exakt der Betrag, den ich noch im Geldbeutel habe. Ich sehe den Lama erstaunt an und er sagt bloß: „Ich weiß.“ Als unsere Gastgeber merken, dass dieses Geld für sie sein soll, sind sie entsetzt und lehnen es strikt ab. So nimmt es der Lama für Lamazwecke an sich. Um halb sechs müssen wir noch mal die Kinder wecken, da unsere Jacken im Wohnzimmer sind. Mir ist das alles voll peinlich. Der Lama zeigt mir, dass er mein Prospekt eingesteckt hat und es behalten will. Na gut. Ich werde von den Dreien noch nach Hause begleitet, wo ich bis zum Samstag Nachmittag wie Tot im Bett liege.

18.05.2002
Ich kann mich nicht mehr an die Namen der Menschen von gestern erinnern. Auch weiß ich nicht mehr genau, in welchem Stiegenhaus diese Wohnung war.
Das Universitäts-Sportfest lassen wir heut mal großzügig ausfallen, meinen Beitrag zum „Tag der Gesundheit“ hab ich gestern schon geleistet.
Um vier kommen wir beide in den Proberaum von „Imperia Snjegof“, dem Schneeimperium. Anna, eine Freundin der Band, ist auch dort. Wir unterhalten uns über das Rockline-Festival, eine Art Russenwoodstock. Politiker und Bürokraten wollen auch dieses Jahr wieder wie in alten Sowjetzeiten das Konzert verbieten, bzw. behindern. Wir unterschreiben eine Liste zur Unterstützung des Festivals. Ich nehme mit der Videokamera ein paar Stücke auf, wir haben viel Spaß. Besonders klasse finde ich eine Version von irgendeinem Black Sabbath Stück. Nach der Probe lasse ich die Band sich vorstellen. Sie positionieren sich vor einem Junge Pioniere Denkmal: ein Mädchen mit Fahne, ein Junge mit Kosmonautenanzug und Phallusgraffiti an der richtigen stelle, Helm im Arm und Make-up im Gesicht. Daneben ein Betonpimpf, dessen Arm teilweise eisern skelettiert und ziemlich verbogen ist. Andrej, der Gitarrist und Alexander, der Schlagzeuger, machen Blödsinn und Klim spricht für alle in die Kamera. Von Walodja (der Bassist Wladimir) bekommt er auf Russisch inhaltliche Vorgaben. Sie erklären ihr anarcho-buddhistisches Konzept und erzählen ein Bisschen über die Band, die ’98 gegründet wurde und von deren Stammbesetzung nur noch der 43 Jährige Walodja übrig ist. Die anderen drei sind erst seit einem Jahr dabei. Sie hatten seither ziemlich viele Auftritte in der gesamten Russischen Föderation. Dann trinken wir etwas Bier im „Büro“ der Band, einem Zimmer im nahen Lehrenden- und Studierendenwohnheim, wo sie früher auch geprobt hatten. Wie haben sie das bloß geschafft, ohne Rausschmiss? Für irgend eine Aktion haben sie sich Ku-Klux-Klan Hauben geschneidert. Mit denen machen wir erst mal Blödsinn. Der Raum hängt voll mit Postern und ist für ein „Bandbüro“ nicht so versifft, wie ich es gewohnt bin. Wir unterhalten uns über unsere Vorstellungen von Kunst, Gesellschaft und so weiter. Klim ist meistens Übersetzer. Ein wenig können wir auch schon so verstehen. Vor Allem Walodja ist sehr interessiert an unseren Meinungen und das, was er zu sagen hat, klingt gut überlegt. Immerhin ist er 25 Jahre älter als seine Bandkollegen. Im Umgang der Musiker untereinander merkt man aber nichts vom Altersunterschied, keiner spielt den Chef, jeder wird gleichwertig behandelt. Auch Anna und Alexandra sind, so gut ich das beurteilen kann, gleichberechtigt in die Diskussion einbezogen. Wir wollen ihnen, weil uns die geschenkte Kassette so gut gefallen hat, noch acht weitere abkaufen. Walodi (die Namen werden hier dauernd anders abgekürzt und verniedlicht) will von uns pro Stück 20 Rubel. Die Leute schenken uns andauernd irgendwas, ein Poster, eine Postkarte, ein Bandfoto, es ist wie Weihnachten. Und wirklich, Klim sagt mir, dass gestern der Geburtstag von Buddha war, und das passt auch. Ich soll ihnen etwas von unserer Band vorsingen. Mit dem Sprechgesang von „egal“ habe ich genau ihren Geschmack getroffen. Sie fragen mich, ob wir auf ihrer neuen LP „Anarchobuddhism“ gemeinsam eine Version davon aufnehmen wollen. Ich bin begeistert! Sie sagen, dass sie im September für einen Monat nach Berlin kämen, vielleicht könnten wir ja einen gemeinsamen Auftritt mit „Nicky Swing & the Slaves of Beauty“ organisieren. Anna fragt mich, ob ich in Wien auch Theaterleute kenne, da sie gerade ihr Regisseursdiplom gemacht habe und sich sehr für junges, experimentelles Theater interessiere. Sie will auch mit nach Berlin kommen, und ich sage ihr, dass sie dort sicher interessante Kontakte haben könne. Ich mache mit ihr aus, dass ich sie über ihre Arbeit interviewen werde. Sie will mich außerdem mal mit zum Karma-Kagyu Zentrum Ulan-Udes mitnehmen. Es soll eine Jurte im Wald sein, ich bin gespannt. Auch Alex unterhält sich ausgezeichnet mit den Leuten und ich glaube, wir fangen an, sie lieb zu gewinnen. Von Anfang an ist bei ihnen so eine unverkrampfte Stimmung zu spüren, die so gut tut, da hier so etwas sehr selten ist. Eine gute Mischung von ernsten Vorhaben und blödsinnigem Schabernack. Walodja lädt uns ein, bei ihm zu Hause Bandvideos anzuschauen. Anna und Klim kommen auch noch mit. Walodis Frau kocht uns diese komischen tortelinieartigen Minipose, und es gibt reichlich zu Essen. Bei einem Video fällt Walodias Zahnlosigkeit besonders ins Auge, ein Arbeitsunfall, wie er sagt, bei einem Auftritt ist er mit dem Mund an ein unter Starkstrom stehendes Mikrophon gekommen. Der Schlag war so stark, dass ihm die Schneidezähne ausgefallen sind. Er sei nicht der erste, dem so was passiert sei, sagt er und dann lachend auf Englisch: „Singing is Dangerous.“ 
Vom Balkon aus können wir eine Kirche sehen und wir unterhalten uns über Religion. Walodja und Anna sind Buddhisten. Ihnen ist die Russisch-Orthodoxe Kirche zu engstirnig und autoritär. Klim ist als Burjate schon von Geburt an Buddhist. Walodja verkauft uns die Kassetten und schenkt uns obendrein noch drei ältere Tapes von Imperia Snjegov. Wir sehen uns wieder Videos an. Bei einem Auftritt in Irkutsk spielt der Quatschkopf Alexander in einem selbstgenähten Schneemannkostüm Schlagzeug und am nächsten Tag rennt er in der Verkleidung wie ein Irrer durch die irkutsker Innenstadt und erschrickt Leute. Das wird von einem anarchistischen Komiker aus Ulan-Ude kommentiert, der sich recht überzeugend als Lenin hergerichtet hat. Anscheinend parodiert er auch Lenins Rhetorik sehr treffend. Um die letzten Busse noch zu erwischen, müssen wir los, das leidige Problem, wenn man am Arsch vom Arsch der Welt wohnt.

19.05.2002
Wir stehen früh auf und fahren mit der Marschrutka zum Ivolginskij-Datsan. Es fällt schon von Weitem durch die gelben Dächer auf. Dort haben die Besucher Nahrungsmittel mitgebracht, die durch verschiedene Zeremonien gesegnet werden. Die schönste Zeremonie findet auf einem Platz im Freien statt. Die Lamas haben prächtige Hüte und Gewänder an und opfern Fett und Getreide, das in einem Feuer verbrannt wird. Leider ist es heute saukalt. So gehen wir in einen kleineren Tempel und sitzen und schauen zu. Der Haupttempel ist wunderschön. Es gibt hier ein Haus, welches um Ableger des Bodhibaumes (unter dem hatte Buddha seine Erleuchtung) herumgebaut ist. Die Verkäuferinnen der Andenkenstände sind ganz schön aufdringlich, auch eine Bettlerin haftet an unseren Fersen, wir sind eben unverkennbar, mit unseren Rucksäcken und Wanderschuhen. Wir haben Hunger, aber in dem Lokal vor dem Haupteingang des Klosters gibt’s nur Pose. Wir kaufen uns zwei Mars. Auf dem Rückweg haben wir Glück. Eine Gruppe frommer Frauen nimmt uns in einem Kleinbus mit in die Stadt, ansonsten hätten wir mit dem Taxi nach Ivolg und dann mit einem Bus, wenn dort überhaupt einer fährt, nach Ulan-Ude weitereiern müssen. 
Am Abend machen wir uns Pfannkuchen. Hätten wir mal statt Roten Rüben und Kraut ein anderes Gemüse dazu, wär’s fast wie ein Essen zu Hause.

20.05.2002
Ich habe das Gefühl, als ob die anfänglichen Barrieren aufbrechen. Meine Anstrengungen, „interessante Kulturschaffende“ dieser Stadt kennen zu lernen, habe ich langsam aufgegeben. Wenn man einmal einen Zugang hat, dann läufts irgendwann von alleine. Und wenn man sich nicht mehr so bemüht, dann wird man auch gelassener. Ich mache mir meistens einen ziemlichen Druck, dass ich einen gescheiten Film über den Kunstbegriff und –betrieb dieses Landes hinbekomme, aber allmählich werd ich entspannter, es wird schon. 
In der Russischstunde musste Semjonov lachen –allerdings ziemlich unterdrückt und ungern- als Alex fälschlich vorlas, dass der "Alexej" vom Übungstext in seiner Freizeit am liebsten pisse. 
Wegen der Visumverlängerung hat Karpov noch keine Neuigkeiten, allerdings hat er mit dem Sportdekan wegen meines Wunsches, bei einem Boxtraining teilzunehmen, gesprochen und zu dem gehen wir auch prompt hin. Der stellt mich auch gleich dem Trainer Valeri Strenikov vor, einem ehemaligen Vize-Europameister und Coach der Nationalmannschaft von Burjatien. Außerdem leite er ein Trainingscamp der Chinesischen Olympiamannschaft. Der cirka einen Kopf kleinere Mann fragt mich gleich, ob ich in einer Stunde zum Training kommen kann. Das ist mir etwas zu schnell und ich sage noch, dass ich wirklich bloß ein Anfänger bin. Das wird ignoriert. Morgen soll ich aber kommen. Im Institut rekrutiert Karpov kurzerhand den armen Aldar, der immer für einen Spezialauftrag gut zu sein scheint. Er erhält den Befehl, für mich beim Boxen zu dolmetschen. Er, der seine Pflichtsportstunde mit Schach belegt hat, erbleicht. Ich habe die starke Ahnung, dass ich mich mit der abenteuerlichen Idee, hier boxen zu wollen, gewaltig blamieren werde. Und das jetzt sogar noch mit „Privatübersetzer“.
Am Riesenschädel treffe ich Alex, Klim und einige seiner Freunde. Zufällig kommen Aldar und Debbie dazu. Klims Freunde zeigen mir begeistert ein Buch über die Philosophie der fernöstlichen Kampfkünste. Auf dem Einband fliegt Chuck Norris um sich hauend und tretend durch die Lüfte. Sie machen in der Historischen Fakultät, wo sie studieren, ein Referat zu diesem Thema. Einige von ihnen, auch Klim, betreiben so eine Art Shaolin-Kung-Fu. 
Es weht heut ein kalter Wind, und als wir Klims Freunde in der Fakultät abgesetzt haben, gehen wir frierend ins Cafe´ des Kinos am Sowjetplatz. Aldar erklärt mir die Sache mit der Uhr. Er hatte mir mal eine russische U-Boot Uhr gezeigt und ich sagte ihm, dass ich die toll fände und wo man so was kaufen könne. Daraufhin machte er irgendwelche Anstalten und fühlte sich zu irgendwas verpflichtet, ich hatte es nicht recht verstanden. Er sagt nun, er wollte die Uhr damals nicht gegen etwas von mir tauschen, er wollte sie mir schenken, doch da sie ein Geschenk seines Vaters an ihn war, geht das nun nicht. Ich verstehe das ganze nicht, da ich nie daran gedacht hatte, mir von ihm diese nagelneue Uhr schenken zu lassen, und ich dachte noch zuerst, er wolle sie mir verkaufen. So etwas mache man nicht unter Freunden, antwortete er mir. Ich bin verwirrt. Was ist das für eine Geschichte mit dieser Uhr? Er will mir „stattdessen“ ein altes burjatisches Spiel schenken, es ist aus Schafsknochen gemacht, und so ganz kann ich seiner Erklärung der Regeln noch nicht folgen, aber wir werden es bei Gelegenheit mal spielen, sagt er. Ich soll ihm vielleicht ein kleines Bild malen. Ausgerechnet, wo ich doch momentan auf dem Gebiet am wenigsten zustande bekomme.
Klim fährt morgen nach Jekatarinenburg zu dem großen Auftritt. Mit einem Kehlkopfgesangsständchen verabschiedet er sich. Als ich’s probier, klingt’s blöd und ich muss husten. 

21.05.2002
Ein muffiger, alter Acrylteppich, braun in braun, mit einem faden Industriemuster, schleißig eine Erinnerung an den „Orient“ heraufbeschwörend, legt sich über die Wörter dieses Landes und immer, wenn ich druntersehen will, staubts und der Zipfel, den ich hochhebe wird schwer. Vokabeln zerlegen sich in meinem Schädel zu Lautfragmenten. Die Grammatik heuchelt Überschaubarkeit, doch sie versumpft immer wieder gerade an Stellen, die ich meine, verstanden zu haben. Mir bleibt nur, Sibirien auf eigene Verantwortung wahrzunehmen, neben den Vermittlungen auf Englisch und Deutsch natürlich, die hier auch möglich sind. Ansonsten: ein paar Phrasen und neunzig Prozent Mimik und Körpersprache. (zu schwülstig?)
Ziemlich aufgeregt gehe ich mit Aldar zum „Sportpalast“. Dort treffen wir gleich einen alten, dünnen, zahnlosen etwa 75 Jährigen Buckligen im Trainingsanzug, der gleich fragt, ob ich der Deutsche sei. Er gehört auch zum Boxteam und haut mir zur Begrüßung gleich mal ziemlich kräftig in den Bauch. Als er von Aldar erfährt, wie alt ich bin, und dass ich erst seit zwei Semestern boxe, lacht er mich aus und pufft mich wieder Richtung Leber. Ich traue mich nicht, zurück zu hauen, aus Angst, er könnte dabei kaputtgehen. Da wir noch etwas Zeit haben, sehen wir uns ein paar Minuten die Ringer beim Kämpfen an. Die Boxer begrüßen mich mit Handschlag und beobachten mich verstohlen beim Umziehen. Zu Beginn des Trainings erklärt Valeri Strenikov den in einer Reihe angetretenen Sportlern den Ablauf des heutigen Trainings. Ich verstehe kein Wort und betrachte die Bilder an der Wand. Sie zeigen Momente von Strenikovs Kämpfen und ihn mit seinem Trainer in der Vergangenheit. Ich bekomme ein paar löchrige Gerätehandschuhe und Strenikov sagt, ich solle nicht so fest an den Sack hauen, um meine Finger zu schonen. Öfter kommt er her, korrigiert mich ein bisschen, und sagt, für den Anfang solle ich es gemächlicher angehen lassen. Mein Partner am Sandsack kann ein paar Wörter Deutsch und korrigiert meine Technik. Wir reden ein wenig über belangloses Zeug. Insgesamt ist die Stimmung sehr locker. Strenikov entlässt mich früher als die anderen. Er sagt, ich solle mich langsam hineinsteigern. Beim Verabschieden macht der Alte, der sein eigenes Greisenprogramm mit Ruderbewegungen in der Luft, kleinen Hopsern und leichten Schlägen gegen den Sack durchzieht, wieder mit mir faxen und wir hauen uns ein bisschen. Aldar geht mit mir zum Bus. Er erzählt mir, dass im Sommer immer Tankwagen voll mit Kwas an verschiedenen Punkten der Stadt stehen, wo man sich am Zapfhahn seine Flaschen auffüllen lassen kann. Für ihn ist es komisch und ungewohnt, wie die Passanten mich angucken. Er sei stolz, mit einem Ausländer zusammen gesehen zu werden, da dies etwas besonderes sei. Er sagt, es sei ihm eine Ehre, mich zu kennen. Dafür könne ich nichts, sage ich.
Gestern haben sie an der Chaussee nach Sokol entlang mit LKWs und Baggern einen kleinen Damm aufgeschüttet, um die Straße vor dem Hochwasser zu schützen, das schon seit einer Woche große Teile der Steppe zu einem flachen See verwandelt hat.
Um halb elf sitzen wir in der Küche und plötzlich steht ein Baum vor unserem Fenster auf. Seit ein paar Tagen werden überall in der Stadt Bäume und Sträucher gepflanzt, die sofort zu treiben und zu blühen anfangen. Woher die kommen, weiß ich nicht, vielleicht sind sie ja über den Winter in den Süden gebracht worden. Wir haben ab jetzt jedenfalls einen Baum vorm Fenster.

22.05.2002
... 
Unterwegs stehen –oh Wunder- die ersten Kwastankwagen an belebten Straßenecken. Sie sind gelb angestrichen und es steht in roten, kyrillischen Lettern „KBAC“ drauf. Das Zeichen von „BURWODA“ ist rot mit Schablonen aufgepinselt. Irgendwie sehen die Behälter wie alte Heizöltanks aus. Hinten ist ein Wasserhahn eingeschraubt und eine Frau mit einer Kasse und einem Plastikmessbecher sitzt auf einem Stuhl davor und verkauft die kühle, herbe Erfrischung für siebenfünfzig den Liter. Das Kwas aus dem Geschäft war eher mit einer Kola mit leichtem Brot- oder Biergeschmack zu vergleichen. Das Kwas aus den gelben Fässern jedoch soll jedes Mal etwas anders schmecken. Auf jeden Fall ist es nicht so süß, eher essigsauer und sehr eigen. Es erinnert an Brot und altgewordenen Apfelwein. Nach einigen Gewöhnungsschlucken schmeckt es mir. 
Um sechs treffen wir uns mit Ludovic Pradere vor dem Museum für Malerei. Da das „Theater der jungen Künstler“ und somit auch dessen Bar noch zu hat, gehen wir mit einer Zweiliterflasche Bier in den Park zum „Teufelsrad“. In der warmen Abendsonne sitzen wir auf zwei gegenüberliegenden Bänken und plaudern. Ludovic sagt uns, in Anbetracht der enormen Landfläche lebten in Russland ungeheuer wenig Menschen Er nennt eine Zahl, so was um die 80 bis 150 Millionen Menschen. „This country is a fucking desert. There is nothing. It’s Impossible to govern this hole land. No People, no money, it’s a shit.” Er erzählt uns vom Winter in Ulan-Ude. „Ein völlig anderes Leben als im Rest des Jahres. Nach der Arbeit sitzt du einfach nur zu Hause rum und bist müde. Sogar der Weg zum Einkaufen wird dir zu anstrengend, weil die Kälte deine Kräfte aufbraucht.“ Er musste seine Gewohnheit aufgeben, seinen Kleinkram in der Hosentasche aufzubewahren, da ihm einmal vor der Wohnungstür der Schlüssel und ein anderes mal im Geschäft das Kleingeld beim Herausnehmen an den Händen festgefroren war. Metall am Körper, wie Ringe, Ohrringe oder Kettchen kann man vergessen. 
Vor der Bar treffen wir Debbie. Es ist zwar offen, doch auch noch etwas leer und kühl. So gehn wir noch mal auf zwei gediegene Liter in den Park. Als die Sonne ihre Kraft verliert, steuern wir ins Lokal, wo auch Nick, Ljuda & Co. wieder sitzen. Sie scheinen zur Stammkundschaft zu gehören. Diesmal bleiben wir strikt beim Bier und betrinken uns in einer kontrollierbaren Geschwindigkeit. Noch inspiriert von Ludovics Wintererzählungen, seiner Schilderung, wie herrlich es sei, bei minus 40 Grad in eine Posnaja zu gehen, sich in dem Fleisch- und Teedunst, der einem entgegendampft, zu treten, sich zu setzen und eine Pose nach der anderen auszuschlürfen, reinzuschlingen und zu wünschen, man könne all seine Haut mit den fettigen Dingern einreiben, gehen wir los. Ludovic hat mich im Rausch zu den grausigen Fleischbrocken mit Nudelhaut verführt. Die Sau! Alex brächte nichts auf der Welt mehr dazu, in so etwas reinzubeißen. Aber in meinem Zustand schmecken die zwei Pose richtig lecker. Ludovic isst vier. Als uns eine Gruppe bieder aussehender Studentinnen auf Englisch ansprechen, verzieht Ludovic das Gesicht. „Ich hab einfach keinen Bock mehr, von solchen scheißfreundlichen Leuten dauernd angequatscht und angemacht zu werden. Die finden einen nur interessant, weil man aus dem Westen ist. Es kotzt mich an!“ Etwas später steckt er seine benutzte Serviette in einen gebrauchten Pappbecher. Die Wortführende der Studentinnen zeigt ihm naserümpfend, dass ihr das nicht recht ist. Ludovic platzt der Kragen: „Alright, alright, that’s enough. I don’t want to have this. Stupid ugly russian people disturbing my privacy and tell me what to do. I go.” Sagt’s, steht auf und ist weg. Als wäre diese Meinungsäußerung für die Leute der anliegenden Tische ein Signal gewesen, kommen jetzt pö a pö immer mehr besoffene an und wollen mit uns quatschen oder uns zum Posebestellen bewegen. Es wird wieder mal zu steil, wie meist nach zwölf in dieser Stadt. Auf der Straße verabschieden wir uns von den Leuten, die von drinnen mit uns herauskamen. Ein pensionierter Polizist verbeugt sich vor uns so schwungvoll, dass er mit dem Gesicht auf den Asphalt klatscht. Beim Aufstehen steckt der Brillenbügel in der Nase und ein Glas ist angeknackst. Die ganze Stirn blutet. Ich gebe ihm ein Taschentuch, was soll ich machen, er will nicht ins Krankenhaus. Ein Mädchen hält für uns ein Auto an und handelt einen niedrigen Fahrpreis nach Sokol aus. Wir kommen in der Früh nach Hause.

23.05.2002
Donnerstag. Eine große Herausforderung. Ich widerstehe der Versuchung, einfach bei Semjonov anzurufen und ihm zu sagen, dass wir krank seien. Um zwölf aufgewacht, gehen wir wie die Zombies zum Fremdspracheninstitut. Ich möchte nicht in meinem Körper stecken. Das Hochwasser hat den Grabstein am Rand der Landstraße zum Flughafen fast ganz verschluckt, nur noch ca. zwei Finger breit schaut er zu mir heraus. Entlang der Strecke, die von den südwestlichen Vororten und Datschasiedlungen hin zur Stadt oder, umgekehrt gesehen, von der Stadt an den südwestlichen Vororten vorbei, Richtung Mongolei führt, gibt es viele Grabsteine, Blechmäler die, mit oder ohne Umzäunungen, Tischchen, Bänke oder Plastikblumen, an die Unfallopfer erinnern wollen. “Katastrof“ nennt man einen tödlichen Unfall im Russischen. Das haben sie auch im Fernsehen gesagt, als General Lebed vor ein paar Wochen abgestürzt ist. Kurz vor der Stadt, hinter der ersten kleinen Brücke, steht mein liebstes Denkmal. Es ist aus blauem Blech und hat ein Lenkrad in der Mitte. Am Lenkrad sind Plastikblumen befestigt. Vielleicht steht noch irgendwo ein Name dran, ich weiß, ich hab das schon mal erzählt. 
Wir haben sicher noch eine Fahne, als wir uns durch die Russischstunde zu quälen beginnen. Trotzdem, oder gerade wegen meiner weichen Birne habe ich das Gefühl, heute viel gelernt zu haben. 
Ich mache mit der Kunstverkäuferin in der Galerie der Künstlervereinigung für morgen einen Interviewtermin aus. Es müssten dann normalerweise auch ein paar Maler und Malerinnen in ihren Ateliers sein. Auf dem nahen Zentralmarkt kaufen wir einen guten Käse, Brot, Kartoffeln und Tomaten. Die Verkäuferinnen versuchen jetzt mehr mit uns zu reden, als sie es anfangs taten, wir sind schon bekannte Gesichter.
Zu Hause in der Steppe, wo die Mücken erwacht sind, reitet ein Cowboy mit seinen Kühen ein paar hundert Meter entfernt an uns vorbei.

24.05.2002
Um eins kommen wir mit Nadja, Ira und Elisa zusammen. Sie helfen uns bei den Interviews als Übersetzerinnen. Die Verkäuferin erzählt uns allgemeines über die Vereinigung, dass hier nur akademische Künstler seien, die das Gebäude in den 50ern selbst aufgebaut hätten und so weiter. Dann sagt sie etwas zu einzelnen Bildern, meist Landschaften darstellend. Im Grunde genommen sind die Bilder technisch perfekt. Aber sie können halt nichts. Die MalerInnen bekommen keine Unterstützung vom Staat oder der Wirtschaft oder sonst wem. Daher malen sie eben das, was gekauft wird. Klar. Bei Walodja, dem über siebzigjährigen Maler und seiner Frau, der Ex-Ballerina und Choreografin, werden wir mit offenen Armen empfangen. Während meines Interviews mit Walodia höre ich im Hintergrund seine Frau, wie sie total enthusiastisch ihre Lebensgeschichte Alex und Nadja erzählt. Walodja sagt, er lebe Tag für Tag so direkt in seiner künstlerischen Arbeit, dass er mir gar nicht sagen kann, was für ihn Kunst eigentlich ist. Nach einer Tasse Tee und einer Zigarette kommt plötzlich eine Geschichte vom Baikal. Walodja war dort übers Wochenende in der Datscha eines Freundes, als er bei einem Spaziergang über den vereisten See ein kugelförmiges, leuchtendes Ufo sah. Erst glaubte er noch an eine Haluzination, aber bald tauchte ein zweites auf, genau im Sternbild des großen Wagens. Das war eher so wie ein eingeknautschtes Kopfkissen geformt. Aus dem Kopfkissen-Ufo kam eine Art Lichtwurst raus, die sich langsam zum kugelförmigen Ufo bewegte. Die Lichtwurst, so drückte Walodja sich aus, verursachte in dem etwas kleineren runden Ufo eine große Erleichterung oder ein Wohlbehagen, als sie von ihm absorbiert wurde. So kam ihm das vor. Er spürte es selbst, und das kleine Ufo pulsierte ein wenig. Es blieb noch eine Weile, auch nachdem das Kopfkissen verschwand. Das alles muss in recht großer Nähe passiert sein, denn Walodis Freunde sahen das gleiche von der Datscha aus in einem vollkommen anderen Winkel, vor ganz anderen Sternen. Noch in der selben Nacht war Walodjas Frau auf dem Weg zur Datscha. Als sie einen Einheimischen nach dem Weg fragte, sagte der, als ob es das normalste auf der Welt wäre: „Die Künstlerdatscha ist dort drüben, da wo grad die Ufos waren.“
Bei Tatjana, einer Burjatin, die im zweiten Stock Gobelins aus Rosshaar fertigt, ist die zweite Videokassette bald voll, und ich kann nicht mehr aufnehmen. Diese Art und Weise Wandteppiche herzustellen, ist eine alte burjatische Tradition. Die folkloristischen Motive –Berge, Pferde Flüsse und Wolken- waren die einzigen Darstellungen, die in der Sowjetzeit erlaubt und sogar befohlen worden waren. Jetzt könne sie nicht mehr anders, sagt Tanja, einmal habe sie ein unübliches Motiv mit anderem Material und in unüblichen Farben gewagt, dies sei aber bei den Kritikern so schlecht angekommen, dass die Arbeit nun zusammengerollt im Schrank liegt. Sie zeigt uns den Teppich aus Schafswolle, auf dem ein stilisierter Schamane mit Trommel an einem Feuer tanzt. sie baut gerade eine Ausstellung auf, deshalb muss sie sich entschuldigen, ich solle ein anderes mal kommen, wenn ich wolle. Im dritten Atelier gibt ein anderer Wladimir, um die 45 mit Glasauge, bärtig und stämmig, gerade Malunterricht. Ein anderes mal könne ich gerne kommen, dann will er gerne etwas über Kunst erzählen und wir könnten ein Bier zusammen trinken. 
Da wir noch nichts gegessen haben, gehen Alex und ich in eine Stalowaja direkt neben den Künstlerstudios. Sie ist teuer und schlecht. In der Post starte ich vergeblich einen neuen Versuch, bei Hotmail in meine Mailbox zu gelangen. Dann geht’s zum Boxen. Letztes mal habe ich auf dem Weg dorthin drei Stücke 16mm Film gefunden. Sie sind schwarz-weiß und ich glaub es sind Aufnahmen aus dem Zweiten Weltkrieg. Irgendwelche Gerichtsverhandlungen oder Verhöre mit Uniformierten. Sehr geheimnisvoll. 
Heute ist der Schwerpunkt Partnerübungen. Ich erwische den größten und stärksten Burjaten im Boxstall. Er hat viel zu lachen, als es beim Aufwärmen darum geht, zu versuchen, dem anderen auf die Schulter zu hauen oder auf die Füße zu treten. Dann breche ich fast zusammen, weil ich mit dem 90-Kilo-Mann auf dem Buckel eine Runde rennen muss. Nachdem wir uns gegenseitig als lebende Schubkarren um den Saal geschoben haben, bin ich einer Ohnmacht nahe. Das schreibt sich jetzt so leicht. Jetzt sollen wir gegeneinander ringen. Lachend wirft mich der Titan hin und her, hebt mich auf seine Schulter, schmeißt mich einfach auf den Boden. Beim anschließenden leichten Sparring suche ich mir einen schwächeren Gegner, der aber auch etwas besser als ich ist. Seine längere Reichweite zeigt auf meiner Stirn und Nase ihre Wirkung. Erst als ich näher an ihn herangehe, hab auch ich ein paar Chancen. Am Sandsack kümmern sich Valeri Strenikov und ein älterer Trainer immer wieder ziemlich intensiv um meine Technik. Zum Glück werde ich auch heute etwas früher als die anderen nach Hause geschickt, ich bin total fertig. Mein Boxgegner Paul, ein Agrikulturstudent vom Lande, begleitet mich noch bis zum Zentralmarkt, weil er dort in die Straßenbahn einsteigen will. Vorgestern haben Alex, Ludovic, Nick und ich ein Treffen in der Theaterbar ausgemacht. Ich bin vorzeitig dort und die Theaterfrau, welche damals die Rede auf den verstorbenen Regisseur hielt, lädt mich zu einem Tee ein. Sie stellt mir Aslan, einen zeichnenden Afghanistanveteranen vor, der gerade seine erste Ausstellung hier aufbaut. Er und ein anderer Theatermensch kommen mit mir ins Gespräch. Die Zeichnungen sind kitschige Männerphantasien mit Händen, Augen, Frauenärschen und Busen, in Wolken, Blitzen und Wellen eingehüllt. Aslan sagt, er sei seit er zeichnet neu geboren. Sein Leben finge jetzt erst an. Für seinen Einsatz in Afghanistan hat er viele Orden angesteckt bekommen.
Im Backstage Bereich des Theaters sitzt ein alter Mann, der im Krieg, wie er sagt, Wien von den Faschisten befreit hat. Er hat selbst einen ganzen Haufen von ihnen gefangen genommen. Nach den Kämpfen war er noch zwei Monate in Wien. Er schwärmt vom Wein, dem Walzer und einer Frau, die er dort kennen gelernt hat. Mischa ist sein Name. Die Managerin des Theaters sagt, ich solle ihn unbedingt auch interviewen. Dazu soll er seinen guten Anzug mit den Orden tragen. Und dann machen wir ein Foto, auf dem Mischa, Alex, die inzwischen auch da ist, und ich drauf sind. Drei Menschen aus Wien.
Ludovic kommt nicht, er hat’s scheinbar vergessen oder er mag heut nicht an die Bar denken. Bei einem Bier quatschen wir noch ein bisschen mit Nick und lernen Anton, einen Tanz- und Schauspielstudenten kennen, der sehr sympathisch ist. Wir schaffen es, früh heim zu gehen. Das ist nicht sehr einfach, da man leicht in der gemütlichen Kneipe hängen bleibt, bis die letzte Marschrutka abgefahren ist. 

25.05.2002
Samstag. Im Sportgeschäft sehe ich einen tollen Rucksack. Ich könnte schon mal einen gescheiten gebrauchen. Bin am überlegen. Der Chinesenmarkt ist heute so überfüllt, dass es keinen Spaß macht, hineinzugehen. In der Post eröffne ich, nachdem meine Postbox wieder nicht aufgeht, eine Adresse bei GMX. Ich leg mich um 18 Uhr in die Hitze der Steppe, sonne mich und schreibe. Alex macht einen Spaziergang alleine, weil wir uns gestritten haben. Gut gelaunt kommt sie zurück und erzählt, dass drüben beim Hochwasser die Leute mit Mistgabeln stehen und im trüben, fließenden Wasser auf gut Glück nach großen Fischen stochern. Beim Heimgehen fällt uns ein dichter Rauch auf, der zwischen den Schrebergärten aufsteigt. Ich denk mir, dass da jemand Autoreifen oder sonst irgend einen Mist verbrennt, wie es hier ja normal ist. Die Hunde bellen aber sehr aufgeregt und auch die Menschen schauen still da hin. Eine Datscha brennt. Die Besitzer stehen verzweifelt dabei und weinen. Keiner macht etwas. Auch auf dem Weg stehen die Leute wie angewurzelt da und gucken hin. Ich weiß auch nicht, was ich tun könnte, ich kann ja noch nicht mal gescheit reden und während wir durch den Qualm laufen und die Augen zu tränen beginnen, kommt zum Glück schon die Feuerwehr. In zehn Minuten ist der Brand gelöscht. Wir gehen nach Hause und ich habe ein mieses Gefühl, weil ich noch nicht mal probiert hab, zu helfen. Es hätte ja noch jemand in der brennenden Hütte sein können, oder sonst was.

26.05.2002
Abends gehen ich und Alex ins Theater der jungen Künstler, wo Debbie und Aldar auf uns warten. Nick hat eine Platzwunde an der Augenbraue. Er lacht und deutet auf meine vom Boxen wunden Fingerknöchel, als ich nach seiner Verletzung frage. Wir haben die Videokamera dabei. Heute möchte ich Aslan, den Zeichner aus Dekistan, Dirkistan oder so, interviewen und vielleicht ein paar Szenen des Theaterstücks aufnehmen. Vor Beginn der Vorstellung ist die Feierliche Eröffnung der Ausstellung von Aslan und einem Alexander, mit Bänderdurchschneiden. Damit das alles mehr Gewicht bekommt, muss das Walodia, der berühmteste burjatische Maler, unser Ufozeuge, tun. Ich bekomme von der aufgeregten Theaterleiterin genaue Anweisungen, wie ich alles festhalten soll, damit man’s auch im fernen Westen sehen kann. Alle sind festlich gekleidet und aufgeregt. Die Bilder sind ziemlich nahe an dem, was meist so in den Bewerbungsmappen für Akademien steckt. Auch nach dem netten Theaterstück werde ich ständig genötigt, das, den und die zu filmen. Vor der Kamera erzählt Aslan seine Lebensgeschichte ungefähr in dem Stil: „Ich wurde geboren in dem wunderschönen Dörfchen X unweit des Bächleins Y. Meine Eltern, Gott hab sie seelig, waren arme Bauern und hatten ein kleines Stückchen Land am Fuße des Berges Z...“ Ehe ich mich versah, waren schon 20 Minuten Band vollgequargelt. Über die Bilder hatte er nur Stuss zu sagen und ich war ziemlich sauer, auch noch als Gegenleistung für seine Weisheiten jedes seiner Bilder einzeln abfilmen und ihm eine Kopie von allem machen zu müssen. Es ist ja trotzdem fair, denn er kann ja nichts dafür, dass ich mich nicht für seine Arbeit interessiere. Alexander mit seinen kitschigen Landschaftsbildern sag ich, dass er sich kurz fassen soll. Das macht er auch und es kommt sogar eine erstaunlich schöne Geschichte raus. „Aus dem Negativen“ meint er, „kann auch positives entstehen. Ich war sechs Jahre im Gefängnis und in dieser zeit war das Schlimmste für mich, keine Landschaft sehen und keine Natur erleben zu können. Ich begann daher zu zeichnen und schöne, ausgedachte Gegenden zu malen, in die ich mich hineinträumen konnte. Die meisten Bilder stellen den Baikal dar, so wie ich ihn mir vorstelle. Jetzt, wo ich wieder frei bin, will ich endlich einmal hinfahren. Ich möchte am liebsten Bergführer oder so etwas werden, ein neues Leben anfangen.“ 
Während ich die Interviews mache, unterhält Mischa, der 80 Jährige Wien-Veteran Debbie und Alex mit seinen charmanten Geschichten, die über die Jahre schon ganz eingedellt und abgegriffen geworden sind, wie sein guter, grauer Hut. es ist erst zehn vor zehn, als wir uns verabschieden, Tee und Waffeln ablehnend. Debbie und Aldar bleiben noch. Die letzte 77er haben wir anscheinend verpasst und als es halb elf ist nehmen wir die Straßenbahn zum Sowjetplatz. Dort fährt die Marschrutka No. 55 gerade ab. Sechs Personen finden darin keinen Platz mehr, darunter wir. Doch da kommt ein Kleinbus ohne Nummer an, der Fahrer fragt, wo die Leute hinwollten, und da viele „Sokol“ angeben, fährt er da hin. 



Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen